Produktentwicklung neu definieren
- von Dr. Peter Urban
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- 24 Jan., 2018
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Produktentwicklungsprozesse der Automobilhersteller sind in die Tage gekommen. Erstveröffentlichung 10/17 www.magazin.wuttke.team.de
Die Produktentwicklungsprozesse der Automobilhersteller sind in die Tage gekommen. Grundsätzlich kann man sagen, dass alle großen Automobilhersteller in der Grundstruktur einen ähnlichen Produktentwicklungsprozess (PEP) hinsichtlich der Serienentwicklung für sich definiert haben. Auf eine Konzeptphase folgt die Serienentwicklung. Diese schließt mit dem häufig als Lounge-Freigabe bezeichneten Meilenstein ab und geht über in die Serienvorbereitung. Die Serienvorbereitung endet mit dem SOP, dem dann die Markteinführung folgt. Doch die Produktentwicklungsprozesse der Automobilhersteller sind in die Tage gekommen. Obwohl sie in den letzten 40 Jahren immer wieder angepasst wurden, können sie nur bedingt mit der digitalen Entwicklung Schritt halten. Infotainment und Vernetzung haben heute einen sehr hohen Stellenwert in der Kundenbewertung und vor allem in der Kaufentscheidung. Nicht umsonst vergibt die Zeitschrift Auto Motor Sport den „Car Connectivity“ Preis auf Basis einer Leserumfrage, siehe z.B. Heft 21/2017. Fahrzeuge müssen also möglichst dem Puls der Zeit folgen können. Denn wer akzeptiert heute noch ein teures PKW-Navigationssystem, das keine Echtzeitstauinformationen integriert oder eine Spracheingabe, die nur mit großer Mühe bedienbar ist. Das Smartphone in der Tasche kann das alles schon! Laut Automobilwoche 17.09.17 bevorzugen 84% der Befragten das Mobiltelefon anstatt des Navis im FZG.
Bei der Entwicklung dieser Systeme geht es vor allem um Geschwindigkeit. Der klassische Entwicklungsprozess orientiert sich jedoch vornehmlich an der Komponentenentwicklung, den Produktionsprozessen der Komponenten und der Elektronik-Hardware. Zu definierten Meilensteinen werden Vernetzungstests durchgeführt, basierend auf den Elektronikkomponenten und des definierten Softwarestands (häufig als I-Stufe bezeichnet). Die Softwareentwicklungsprozesse basieren jedoch auf der Annahme hoher Sicherheits-, Qualitäts- und Dokumentationsstandards mit entsprechend langen Entwicklungszyklen. Das hat für sicherheitsrelevante Funktionen (nach ISO 26262), sowie für zulassungs- und gewährleistungsrelevante Funktionen seinen Sinn. Denn wer möchte schon durch Fehlfunktionen des Fahrzeugs einen Unfall erleiden bzw. von Fehlern in versprochenen Funktionen geärgert werden. Für andere Funktionen ist dieser Ablauf jedoch zu starr und kann der Dynamik heutiger Entwicklungen der IT-Giganten nicht mehr folgen.
Bild : Conti HMI-System, eine Anzeigeoberfläche bei getrennten Softwareebenen, IAA 2017, P. Urban

Weitere Treiber der Veränderung
Zeit und Kosten sind seit jeher große Treiber der Veränderung des PEP’s. So sind in der Vergangenheit immer wieder abweichend vom PEP-Standard sehr individuelle Projektverkürzungen umgesetzt worden. Man kann sagen: Die Abweichung vom PEP ist schon die Regel.
Die ganz großen Zukunftsthemen der Automobilindustrie wie Elektrifizierung, Autonomes Fahren, Digitalisierung & Vernetzung und Entwicklung neuer Geschäftsmodelle sind existenziell im Kampf um die Marktposition, speziell auch im Wettbewerb mit den großen IT-Giganten. Sie haben oberste Priorität und beanspruchen entsprechend hohe Finanzmittel. Mit den heutigen Geschäftsmodellen verdient man mit jedem Fahrzeug nach wie vor nur einmal Geld. Mit anderen Worten: Die Entwicklungsbudgets werden anders verteilt als bisher. Die neuen und hochpriorisierten Themen ziehen aus der klassischen Entwicklung Mittel ab. Diese Finanzlücken müssen kompensiert werden. Das kann nur durch eine Veränderung der Art des Entwicklungsprozesses und der Art wie entwickelt wird gelingen. Standardisierung, Modularität der Komponenten und der Software sind hier schon seit längerem ein Thema. Das spart nicht nur Produktkosten, sondern auch Entwicklungskosten.
Bild: Beispiel BMW I Vision Dynamics, die nahe Zukunft der Fortbewegung, IAA 2017, P. Urban

Virtualisierung, das neue Zauberwort
Neues Zauberwort ist die Virtualisierung im Entwicklungsprozess. Schon Ende der 80’er Jahre war sie in aller Munde. Schließlich war die Einführung der CAD/CAX-Systeme ein erster Schritt. Heutige Produktionsprozesse sind ohne virtuelle Unterstützung nicht mehr denkbar. In der Auslegung von Komponenten und Systemen werden virtuelle Methoden häufig schon konsequent genutzt.Und dennoch klafft nach wie vor eine sehr große Lücke zwischen dem Wunsch ein Fahrzeug komplett virtuell entwickeln zu wollen- ohne Prototypen und reale Tests -und der Realität. Könnte man das, hätte es den Vorzug, dass erhebliche Kosten eingespart werden können. Speziell die Verifizierung und Validierung basieren nach wie vor auf realen Komponenten und Fahrzeugen. Diese benötigen zur Erstellung große finanzielle Mittel. Da erreicht ein Konzept-Prototyp mal schnell die 1.Mio € Marke. Und mit einem Prototyp ist es normalerweise nicht getan. Außerdem kommen die entsprechenden Prüfstands- und Erprobungskosten dazu. Hier durch Virtualisierung zu sparen macht hochgradig Sinn. Das heutige Verhältnis zwischen Rechenleistung und Kosten hat ein verträgliches Niveau erreicht, so dass auch ein realer Kostenvorteil zu erwarten ist. Allerdings nur, wenn man die Simulationsmodelle permanent auf dem Stand des realen Produkts hält.
Trotzdem ist klar: Die physikalische Wirklichkeit kann nach wie vor nur beschränkt virtuell abgebildet werden. So werde ich es wohl nicht mehr erleben, ohne Prototypen auskommen zu können, jedenfalls nicht bei solch hochkomplexen und sicherheitsrelevanten Systemen wie Fahrzeugen. Auch beim Softwaretest mit simulierter Hardware kommt man heute noch schnell an Grenzen. Trotzdem sind Reduzierungen der Anzahl der Prototypen, der Tests und Ersetzung von bestimmten Tests machbar. Es ist jedoch ein gravierender Kulturwandel notwendig, der einerseits das Vertrauen in die Simulationsmethoden, andererseits auch einen Verlust an emotionalem Erleben für den Entwickler mit sich bringt.(Prototypen real und emotional nicht mehr oder seltener im Test erleben können).
Siehe dazu auch meinen Vortrag auf der VPC-Tagung 2016 „Weiterentwickelte Validierungsansätze für den Powertrain und den Vortrag von von Thomas Liebezeit „Testen am SiL: Kopplung von HiL-Testautomatisierung und SiL-Umgebung“
Digitalisierung steigert das Kundenverständnis
Die Nutzung von Daten aus der realen Kundenanwendung eröffnet der Entwicklung ganz neue Möglichkeiten. Es lässt sich sehr genau erkennen wie der Kunde das Produkt nutzt, welche Fahrsituationen damit verbunden sind, welche Belastungen und auch welche Fehler auftreten können. Die Digitalisierung und auch die Vernetzung sind dazu der Schlüssel. Felderfahrungen können damit schneller und direkt an die Entwicklung weitergegeben werden und in die Produktverbesserung als nächste Modellpflegestufe einfließen, bzw. in SW-Updates münden. Außerdem lässt sich schon während der Entwicklung mit Big-Data-Ansätzen ein Mehrwert aus der Verknüpfung von Entwicklungsdaten ziehen.
3-D-Druck beschleunigt
Bis der Traum von der rein virtuellen Entwicklung umgesetzt ist hilft in Teilbereichen der 3-D-Druck, um schneller zu hochwertigeren Prototypen zu kommen. Speziell in der frühen Konzeptphase kann das von Vorteil sein, wenn z.B. spätere Druckgussteile aus dem 3-D-Drucker dem Serien-Design möglichst gut ähneln. Die Technik ist hier schon recht weit entwickelt, wie bei der IAA auf dem Daimlerstand zu erleben war und von den Fachexperten bestätigt wurde. Für Großserien ist er jedoch noch nicht wirtschaftlich. Weitere Vorteile sind z.B. die völlige Freiheit in der Formgebung (Entfall der Entformung bei Gussteilen), die Herstellung von hybridischen Werkstoffkombinationen und das Entfallen der Ersatzteillagerung.
Bild: Daimler 3-D-Druck-Fähigkeiten, IAA 2017, P. Urban

Auswirkung auf das Projektmanagement?
Es wird deutlich, dass weniger Prototypen zum Einsatz kommen und Baustufen reduziert werden. Dadurch wird der PEP verkürzt. Tests werden durch Kombination mit virtuellen Methoden reduziert werden. Das spart Zeit und Kosten. Außerdem wird dazu übergegangen, die Architektur der Komponenten und die Software noch stärker zu standardisieren. Speziell bei der Software wird eine funktionale Trennung zwischen kritischen und weniger kritischen Funktionen stattfinden müssen, um bei weniger kritischen Anwendungen schnelle und bequeme Online-Updates zur Verfügung stellen zu können. Dieser Bereich lässt sich dann eher vom klassischen PEP entkoppeln und leichter mit agilen Methoden bearbeiten. Das kann ein Plus an Geschwindigkeit in erlebbaren Kundenfunktionen bringen.
Als Projektmanager wird man sich mit den neuen Methoden auseinander setzen müssen, um selbst genügend Vertrauen in sie zu entwickeln. Erst dann ist man in der Lage, guten Gewissens den Rahmen für die Entwicklungsmannschaft zu stecken und die erwarteten Kosten- und Zeiteinsparungen zu realisieren. Neben dem klassischen Projektmanagement wird auch das agile Instrumentarium unweigerlich zum Einsatz kommen müssen. Es ist eine parallele oder auch hybride Projektform denkbar. In jedem Fall sind agile Methoden in Zukunft ein wichtiges Handwerkszeug. Nebenbei bemerkt ist der agile Werkzeugkasten auch bei Projektkrisen eine gute Wahl, die so oder so jederzeit eintreten können.
Der Projektmanager wird damit zu einem sehr wichtigen Träger und Treiber des notwendigen Kulturwandels und der Neudefinition des PEP.